1999
Neulich kam jemand und sagte, wer einem Künstler für Geld eine Lobrede halte, der habe sich verkauft und damit prostituiert. Meine Damen und Herren, ich darf Ihnen versichern, dass ich nicht gekauft, sondern angefragt wurde. Aschi Müller ist ein Freund, über den ich sehr gerne ein paar Worte verliere. Und wenn die folgende, kleine Ansprache nach Lobrede klingen mag, dann ist sie Ausdruck ernstgemeinter Wertschätzung.
Gestatten Sie mir, gleichsam zur Einstimmung, ein paar Verse:
Der Liebe Gott hat neue Sorgen,
die Schöpfung wird ihm korrigiert.
Wir können es uns selbst besorgen,
genetisch, technisch, raffiniert.
Der Liebe Gott wird alt und bitter,
er spuckt auf diese Technozeit,
er spuckt in etwa einen Liter,
die Erbgutforschung ist erfreut.
Die DNA der Speichelzellen
wird aufgeschlüsselt und studiert.
Das Resultat wirft hohe Wellen,
Gott wird bei Hoff-Roche patentiert.
Vor mehr als zwanzig Jahren suchte Aschi Müller einen Professor am Pathologischen Institut in Bern auf, um sich ein konserviertes Menschenhirn zu beschaffen. Der Professor war freilich nicht befugt, Leichenteile an Künstler auszulehnen, und so musste sich Müller mit einem Gipsabdruck zufrieden geben.
Das Gehirn ist seither ein Leitmotiv in Müllers Schaffen. In seiner neusten Lithographienserie, einer Studie über die menschlichen Sinnesorgane, über unser Verhältnis zum Besitz, über den Zeitgeist auch, treffen wir das Gehirn wieder an, nicht wie in früheren Arbeiten, eingeschlossen in einer Nussschale oder eingespannt in einen Schraubstock, sondern gut verschlossen in einem Metallkoffer.
Nun wird ja an Vernissagen gern darüber gerätselt, was der Künstler mit diesem oder jenem Sujet aussagen wollte, was der Künstler empfunden hat, oder was er bei uns auslösen will. Das mögen berechtigte Fragen sein, gewiss, aber sie hier allgemeingültig beantworten zu wollen, wäre anmassend.
Lassen Sie mich deshalb auf sicherem Boden bleiben, auf dem Boden der Geschichten. Ernst A. Müller, Zeichenlehrer, Lithograph, Denker, soll einmal im Halbschlaf seiner Frau Jolanta, die gerade das Haus verliess, zugerufen haben: «Kauf nichts, wir haben alles!»
Mit der Zeit wurde aus dem zitierten Satz eine jener Wendungen, die ohne ein Menschenpaar vielleicht gar nie entstehen kann, eine jener Wendungen, die im Zusammenleben zweier Menschen immer wieder in neuen Zusammenhängen auftaucht, bis es zum geflügelten Wort anwächst. «Kauf nichts, wir haben alles!», das ist inzwischen auch ein Motiv in Müllers Kunstschaffen.
Seine neusten Lithographien – und darüber wollte ich eigentlich reden – befassen sich mit den menschlichen Sinnesorganen, nicht nur, aber, vor allem. Im Koffer, den ich eingangs erwähnt habe, sind sie gesammelt. Dort liegen sie, einzeln, demontiert und neu angeordnet, aus dem Zusammenhang gerissen und gleichzeitig sicher aufbewahrt.
Wichtig ist nicht, was wir brauchen, wichtig ist nur, dass wir alles haben, dass alles gut versorgt und gut gesichert ist. Alles, was der Mensch hat, ob brauchbar oder nicht, grenzt er sorgfältig ab, um es gleichzeitig vorzuführen.
Öffnen wir mit Müller den Metallkoffer, gebrauchen wir die Sinnesorgane für die Tätigkeit, für die sie eigentlich vorgesehen waren, also zum Wahrnehmen.
Jedes Bild ist einem Sinnesorgan gewidmet. Ernst A. Müller hat hierfür, wie schon in früheren Arbeiten, mit Bildmaterial aus Zeitungen und Prospekten gearbeitet, zum Teil mit Werbefotos, die er am Computer verändert, anpasst an seine Aussage, an das, was er gesehen haben will oder gesehen zu haben glaubt.
Der Künstler beginnt seine Arbeit mit moderner Computertechnologie, um später, in der Werkstatt, mit einem der ältesten Druckverfahren, der Lithographie, zu seinen Bildern vorzudringen. Meist sind vier oder fünf Druckvorgänge nötig, bis die Farben so geworden sind, wie wir sie hier sehen. Müller verwendet weder Schwarz, noch Grau, noch Weiss, nur immer Farben, wie er mir erklärt hat. Warum? Fragen Sie nicht. Betrachten sie die Bilder.
Wer Müllers Bilder gesehen hat, wer mit ihm spricht, wer ihn kennt oder wer, wie ich zum Beispiel, sein Schüler war, kommt nicht umhin, politisch zu denken, die Welt, die ihn umgibt politisch zu verstehen. Es gab einen spanischen Dichter, Gabriel Celaya, der sagte, Kunst dürfe nicht einfach nur schmückendes Beiwerk sein, er verachte die Kunst, die nicht bereit sei, zur Gegenwart zu sprechen, sich einzumischen, selbst auf die Gefahr hin, sich zu beschmutzen. Müller hat sich schon oft beschmutzt. Aber er beschmutzt sich wie all die anonymen Arbeiterinnen und Arbeiter, die jeden Morgen ihrem Tagwerk nachgehen müssen, Müller beschmutzt sich mit dem Schmutz, der ehrliche, aufrichtige Arbeit mit sich bringt. Es ist ein Schmutz, den man leicht und selber abwaschen kann.
Ja, meine Damen und Herren, in dieser Hinsicht ist Aschi Müller altmodisch. Die Postmodernität will uns vorgaukeln, alles stimme, alles gehe, alles sei okay, alles easy, alles unverbindlich, alles nur ein Spiel. Für den Künstler und Menschen Aschi Müller aber gibt es noch Verbindlichkeit. Er ist, anders als manche seiner ehemaligen Mitstreiter, ein Linker geblieben, ein politisch denkender Zeitgenosse in einer Umgebung und in einer Zeit, in der offenbar immer mehr Leute den Kopf nur noch zum Geldverdienen brauchen und ihre Gefühle längst irgendwelchen Kursleitern in Esoterikkurszentren anvertraut haben.
Es mag sein, dass sich Müller deswegen künstlerisch immer wieder mit dem Hirn beschäftigt hat. Weil er will, dass das Hirn frei bleibt, frei genug, um weiter zu denken, viel weiter als bloss bis zur rechten Arschbacke, an der der Geldbeutel hängt.
Müller ist ein Denker, aber nicht unbedingt Nachdenker, sondern ein Lautdenker. Er denkt laut, spricht laut, lacht laut, beschwert sich laut. Das muss wohl so sein, bei einem, der sich mit der stillsten aller Künste beschäftigt. Aber vor allem, und das wollte ich noch erwähnen, ist Müller immer eigenständig. Seine Eigenständigkeit ist Frucht eines Schaffens, das sich nicht am Zeitgeist orientiert, sondern am Geist. Dafür haben wir ihm zu danken.
Pedro Lenz