2002
Die formalelegische Transgression der hier präsentierten Werke trifft im inneren Ausdruck auf eine objektivierte Haltung, die in nahezu perfekt exolkutanter Weise, den bis anhin noch nicht dargestellten und gerade deswegen implizit sublimierten Bezug zu einem gleichzeitig nicht seienden Ganzen herstellen möchte, wodurch sich dem exaltierten Betrachter allmählich die eine oder andere Anspielung auf die histerisch-soziale Dimension des Gesamtwerks anerbietet, dessen Innenansicht jedoch jederzeit rapide in sein interkonkretes, explizit ausuferndes Gegenteil transkreditiert werden könnte, wenn nicht gar müsste.
Das hängt jetzt einfach von Ihnen ab, liebe Kunstsachverständige.
Denn: Gerade in diesem bereits kurz angesprochenen transaktionistischen Koloritmotiv der ausgewählten und angedeuteten Werktiefe, äussert sich der verspielte und unkontrollierte Urschrei nach harmonischer Erfüllung und gestalterischem Reichtum.
Ououououou.
Entschuldigen Sie bitte vielmals, da scheint sich ein Teil der Ansprache, die ich eigentlich für die kommende Frühjahrsvernissage der neuen Rolf-Knie- Krawattenkollektion vorbereitet hatte, in den heutigen Text eingeschlichen zu haben.
Aber keine Bange, der richtige Text ist auch da, es ist alles halb so schlimm. Lassen Sie mich bitte nochmals von vorne beginnen:
Liebe Kunstinteressierte,
«Geh‘ aus mein Herz und suche Freud‘»
Als ich erstmals den Titel von Müllers diesjährigen Ausstellung zu hören bekam, da dachte ich zunächst: «Voilà, jetzt hat es die neue Weltordnung doch noch geschafft, unseren Ernst. A. Müller zu entpolitisieren.»
«Geh‘aus mein Herz und suche Freud‘», das ist ein Zitat aus einer Volksweise und scheint auf den ersten Blick eine ganz und gar unverfängliche, harmlose Aussage zu sein.
Aber dann erinnerte ich mich vage daran, dass Aschi in meiner Anwesenheit schon das eine oder andere Mal jenen anderen Ausspruch zitierte, den die Pariser Studentinnen und Studenten der Mairevolte von 1968 hervorgekramt und neu belebt hatten:
«L´amour est l´enfant de la liberté»
Und von eben dieser Liebe, die der Freiheit entspringt, erzählen die heute hier ausgestellten Bilder.
Es war im Jahr 1995, als Müller während seiner Ferien in Polen radfahrend dem romantischen Ausspruch «Geh´aus mein Herz und suche Freud´» Folge leistete und einer Strasse entlang pedalte, die aus der Ortschaft Gorzanów an Wiesen und Wäldern vorbeiführt. Gorzanów bedeutet auf Deutsch Grafenort. Die von ihm befahrene Strasse war – anders als bei uns, wo bald jeder Bergwanderweg Roller-Blade-tauglich asphaltiert ist – voller Schlaglöcher. Und auf einmal fiel Müller auf, dass eines dieser Schlaglöcher genau die Form eines Herzens hatte. Der radfahrende Künstler hielt an, betrachtete das Herz im Asphalt und kam ins Grübeln. Er hielt den herzförmigen Strassenschaden fotografisch fest, fragte sich, weswegen es wohl der Witterung gerade an dieser Stelle gefallen hatte, eine herzförmige Ausbuchtung aus dem Teer zu waschen und fuhr weiter.
Als Müller sich ein Jahr später daran machte, sein Herz in der Strasse bei Gorzanów wieder aufzusuchen, machte er eine merkwürdige Feststellung: Die Strasse war noch immer fast genauso beschädigt wie im Sommer davor, nur ausgerechnet das Herz war von unbekannter Hand sauber und sorgfältig zugeteert worden.
Dieser eigenartige Befund und ein paar weitere Mysterien, die Müller auf seinen Radausflügen in Polen aufgefallen sind, haben ihn schliesslich zu den Lithographien inspiriert, die Sie heute hier zu sehen bekommen.
Dem grünen Bild liegt eine freie Zeichnung zugrunde, die sich der Landschaft bei der erwähnten Strasse ausserhalb von Gorzanów anlehnt.
Beim nächsten Bild handelt es sich um eine Aufsicht auf die Strasse mit den schadhaften Stellen.
Die gleiche Strasse ist auch auf dem dritten Bild abgebildet, diesmal allerdings mit mehr Hintergrund.
Beim nächsten Bild könnten wir den Eindruck bekommen, jemand habe nachgeholfen, um die Herzform derart klar herauszubilden, aber dem ist überhaupt nicht so, denn in besagtem Sommer lag die Liebe förmlich in der Luft und nicht nur dort, handelt es sich doch um die Zeit, in der Aschis polnische Nichte erste abendliche Ausflüge unternahm, von denen sie zuhause nicht mehr alles berichten wollte.
Hinten sehen Sie einmal das offene und einmal das zugeteerte Herz.
Das Bild 8 gibt die Landschaft diesmal in Schwarzweiss wieder, Bild 9 nimmt das Motiv von Bild 2 wieder auf. Bild 10 dasjenige von Bild 3 und so weiter.
Was aber sagt nun unser beschränkter Kunstsachverstand zu diesem in einer gekonnten Lithographiefolge aufgenommenen Mysterium mit dem Herzen aus der Ortschaft Gorzanów? Vielleicht nur soviel: Müller ging aus und suchte Freude. Und nun lässt er uns Anteil haben, Anteil an seiner Suche und an einem Mysterium, das wir zu einem Teil dem Zufall und zum andern Teil einem unbekannten, polnischen Strassenarbeiter zu verdanken haben.
Es geht also nicht bloss um das Mysterium der Liebe, um die Leichtigkeit des Suchenden, nein, bevor wir emotional ins Schwelgen geraten, verknüpft Müller die spirituelle Seite mit der konkreten Arbeit eines anonymen Strassenarbeiters.
Pedro Lenz