2004
Es ist zu einer lieben Gewohnheit geworden, dass Ernst A. Müller im November neue Lithographien zeigt und uns alle dazu einlädt. Das ist eigentlich verwunderlich, nicht dass Müller uns immer wieder etwas zu sagen hat, nein, daran haben die, die ihn kennen, sich längst gewöhnt. Erstaunlich ist viel eher die Tatsache, wie schnell aus einer Idee eine Gewohnheit wird oder wie schnell wir uns an etwas gewöhnen können, an das wir vorher gar nicht gedacht hatten. Oder wer von uns hat vor 1998 an diesen Keller gedacht und daran, dass wir Jahr für Jahr hierhin pilgern werden, um uns von Müllers Kunst irritieren zu lassen?
Jetzt denken wir daran, jetzt ist dies kein Keller mehr, sondern die Altstadtgalerie Laupen, der Treffpunkt interessierter Zeitgenossen, der Ort, wo uns Joli Müller zu essen und zu trinken gibt, wo wir sehen, staunen, uns austauschen, der Ort, den wir nie im gleichen Zustand verlassen, wie wir ihn angetroffen haben.
Das, was wir uns vorstellen können, sagte mir Aschi Müller neulich, basiert immer auf der Realität der Vergangenheit. Wir orientieren uns an dem, was bekannt ist. Und das ist schon lange passiert. Wir versuchen uns vielleicht mal vorzustellen, wie es wohl wäre, wenn man auf Mäusen menschliche Ersatzteile züchten könnte, aber das ist schon erprobt. Wenn wir uns an den Gedanken gewöhnt haben werden, wird es normal sein. Denn das, was machbar ist, wird gemacht. Die Ausbeutung der Erde bis zum bitteren Ende ist längst im Gang, nicht erst seit diesem oder dem letzten Jahrhundert.
Was lässt sich dieser Ausbeutung entgegenhalten? Der Künstler meint, die Verwunderung, das Gegenteil der Gewohnheit also, denn in der Verwunderung verbirgt sich der Aufschrei. Oft haben wir uns an das Unerträgliche gewöhnt. Die unerträglichsten Bilder sind nicht mehr so unerträglich, wenn sie alltäglich werden. Vielleicht ist es deshalb eine noble Aufgabe der Kunst, unsere Sehgewohnheiten immer wieder zu hinterfragen, um unsere verschüttete Fähigkeit zur Verwunderung zurück an die Oberfläche zu bringen.
Sehen Sie sich das zweite und das dritte Bild an. Welche Augen sind echt? Welche sind ein Produkt? Was heisst echt? Wären unsere Augen, mit denen wir jetzt gerade die Bilder betrachten, künstliche – zum Beispiel auf einer Labormaus gezüchtete – Augen, sähen wir wahrscheinlich die gleichen Bilder, vielleicht sähen wir sie sogar noch deutlicher. Wäre das eine Option? Wäre unser Blick dann noch unser Blick? Oder wäre es der Blick fremder Augen in uns?
«Wir geben», erzählte Aschi Müller, als er mir die hier ausgestellten Bilder erstmals zeigte, «der Natur nichts zurück, von dem, was wir ihr nehmen.» Die Erkenntnis ist nicht neu. Aber die Ausbeutung nimmt immer extremere Formen an. Und vielleicht hat es wenig Sinn, das immer wieder zu beklagen, aber darauf aufmerksam zu machen, scheint einem zumindest angebracht.
Dafür steht Müllers Kunst, die sich – ich habe es vielleicht schon irgendwann erwähnt – nicht auf den Zeitgeist abstützt, sondern auf den Geist, auf den wachen Geist eines Zeitgenossen, der sich nicht an alles gewöhnen mag, der seinen Blick nicht ständig nach hinten oder zur Seite richten mag, der lieber mitten hinein in die Realität schaut, die ihn und uns umgibt. Freilich verwandelt er dann die gesehene Realität zu jeder Imagination, die jede Realität zu übersteigen vermag.
Der harmlose Küchentisch etwa, den sie dort vor sich haben, mit seiner archaischen, fast primitiven Auslegung, ist nichts weniger als der Arbeitsplatz, an dem 1938 der Grundstein für die Kernspaltung gelegt wurde, deren Entwicklung die Welt so nachhaltig verändert hat. Müller hat diesen Tisch im Deutschen Museum in München gesehen und sogleich erkannt, was der überwiegenden Mehrheit der Museumsbesucher vermutlich verborgen bleibt: Wie einfach oder wie kompliziert die Technik ist, die unsere Welt verändert, ist reine Glaubenssache. Fest steht, dass die meisten von uns mit aller Technik überfordert sind. Wir wissen nicht, wieso ein Mobiltelefon, ein Computer, ein Auto oder eine Herzlungenmaschine funktioniert. Wir brauchen diese Dinge und glauben wie gläubige Kinder daran, dass sie im Innern schon richtig sind, schon so sind, wie sie sein müssen. Und aus diesem naiven Glauben heraus entwickelt sich etwa der Glaube an die Unantastbarkeit der Hightech-Medizin, der Gentechnologie, der Stammzellenforschung und all der Dinge, von denen wir nicht viel verstehen und von denen uns gesagt wird, wir sollen bloss vertrauen, zuletzt komme alles gut, irgendwie, vielleicht.
Und obwohl beispielsweise niemand eine genaue Vorstellung vom Innenleben einer Maus haben kann, vertrauen viele von uns auf einmal blind darauf, dass diese Maus etwa in der Medizin exakt das hergeben wird, was uns gut tut.
Achten Sie zum Beispiel auf die Maus mit dem kleinen Menschenhirn. Was wissen wir von ihr, biologisch oder technisch? Wenig. Kunstkritisch lässt sich immerhin schon mal sagen, dass dieses Hirn, das hinter der Maus schwebt, etwas wie Müllers Leitmotiv ist. Und zuweilen frage ich mich, ob das wiederkehrende Hirn in seinen Arbeiten mich dazu auffordern will, als Betrachter seiner Bilder mein eigenes Hirn nicht ganz zu vergessen. Denn – und das wissen alle, die Müllers Arbeiten über die Jahre verfolgt haben, mit dem Gefühl allein lässt sich seine Kunst nicht betrachten.
Und wenn er uns auch, wie im Bild mit dem Weltall, einmal in Himmelsnähe führt, heisst das noch lange nicht, dass himmlisch-esoterische Stimmung aufkommt. Müller sagte mir zu diesem Bild, es habe einst, während des kalten Kriegs, in den USA und in der UdSSR Versuche gegeben, Delphine als Bombenleger einzusetzen, dass man aber letztlich davon absehen musste, weil die Meeressäuger viel zu verspielt waren. Mit Hilfe der Gentechnologie und den entsprechenden Versuchen jedoch, fürchtet Müller, könnte es wohl bald möglich sein, Tiere so herzurichten, dass sie genau das tun, wofür sie vorgesehen sind.
Ohne jetzt auf jedes Bild einzeln einzugehen, bleibt festzuhalten, dass der Künstler bei aller Gegenwartskritik nicht in die Falle derer gerät, die aus lauter Angst vor der Zukunft die Vergangenheit verherrlichen. Sonst entsprächen die Bilder, die wir heute hier ansehen, ungefähr dem Geschmack jener Figur, zu der mich einst die Besucherschaft einer Albert-Anker-Ausstellung inspiriert hat. Anker selbst kann nichts dafür, aber ich möchte die erwähnte Figur, Ernst A. Müller zu Ehren und Ihnen allen zur Erheiterung, an dieser Stelle kurz sprechen lassen:
«Ha eifach numen immer wöue vo früecher verzöue, nüt angers, eifach immer nume säge, wies aube no schön isch gsy, und wie ds Läbe dennzumou sträng, aber gerächt isch gsi, und wieme sinerzyt no het chönne zfride si, ou mit weniger Gäut und mit weniger Technik und weniger Maschine, überhoupt mit weniger vo auem zäme. Eifach nume das hani wöue säge, und das mer früecher nie gjammeret hei, obwoumer hätte chönne, wemer hätte wöue, und de no wie, aber me het eifach nid, nei, me het nid, me hetsech dry gschickt, me het no gwüsst, was sech ghört, und me het aube no Aschtang gha, und me het no Reschpäkt gha und Gottesfurcht, aube, und Ornig und Fröid a chline Sache hetme gha, und zunenang gluegt hetme und gfouget und gchrampfet und a Heiland gloubt und ou mou verzichtet und nid immer useghöischet, und am Morge ischme uf und zwar jede Morge, und me het gar nüt angers kennt, eifach nüt angers kennt, nie öppis angers kennt, gar nüt kennt, überhoupt nüt kennt, wie hätme ou wöue, me het gar nid wöue öppis angers kenne, nüt kennt, gar nie nüt kennt, nei, ehrlech nid, ganz eifach nüt kennt hetme, aber es isch eim wou gsy derby, vögeliwou, wunderbar isches gsy, wettmi gar nid beklage, uf gar ke Fau, wär gar nid mini Art, nei, sicher nid, wüsst nid worum, hätt überhoupt ke Grund. Es isch eso gsy, wies isch gsy, guet isches gsy, tipptopp, hert und eifach, aber zfride, immer schön zfride!»
Pedro Lenz