2000
«Aufsichten» nennt unser Freund und Künstler Aschi Müller seine neusten Lithographien. Und auf den ersten Blick will es tatsächlich scheinen, dies sei ein seriöser und passender Titel für Müllers neue Bilderserie. Aber dann stand da auf der Einladungskarte auch noch:
«Ich reiste im Traum nach Kottbus
und liess dort meine Handtasche stehen.
Jetzt muss ich zurückträumen
und sie holen.»
Nachdem ich dies gelesen hatte, begann ich sogleich zu vermuten, Müller wolle uns mit dem Titel «Aufsichten» bloss verwirren. Mich dünkte, er wolle uns nicht etwas von oben oder von aussen zeigen, sondern etwas von mittendrin. So wenigstens, verstehe ich den Wink mit dem Zitat von Tucholsky, in dem vom Traum und der Tasche die Rede ist.
Wer Müller und seine Kunst zu kennen glaubt, wird mir entgegenhalten wollen, dieser Mann sei kein Träumer, kein Intimist, kein Pathetiker, sondern im Gegenteil, ein höchst politischer Mann und Künstler.
«Das ist kein Träumer!», wird behaupten wollen, wer Müllers Lithographien mit den Labormäusen gesehen hat.
«Das ist kein Träumer!», wird sagen wollen, wer sich an die Lithographienserie mit den Variationen des Nazigrusses erinnert.
«Das ist sicher kein Träumer!», wird rufen, wer jemals Müllers Hirn-Koffer-Bilder gesehen hat.
Vielleicht stimmt es ja sogar, vielleicht ist Müller tatsächlich kein Träumer, aber er kann sich, genau wie Tucholsky, nicht dagegen wehren, dass ihm im Traum eigenartige Dinge zustossen.
Ja, was glauben Sie, meine Damen und Herren, was glauben Sie denn, wieviel unruhigen Schlaf einer braucht, bis ihm die Verwandtschaft zwischen einem Schildkrötenpanzer und einem Schachtdeckel aus Gusseisen auffällt? Was glauben Sie, wie besorgniserregend ein Traum sein muss, bis plötzlich Menschenhände und Teigwaren sich zu gleichen beginnen.
Müller war im Traum weit weg gereist und hatte einige Bilder stehen gelassen. Deswegen musste er zurückträumen, um sie zu holen. Und sehen Sie selbst, wie er sie geholt hat:
Was uns Harmonie vortäuschen will, was uns abgerundete, klare Strukturen vorspielen möchte, ist im Grunde höchst beunruhigend. Runde Formen, «Aufsichten», ruhige Farbgebung, die ganze Harmonie ist bloss vorgetäuscht.
In Aschi Müllers Kopf dreht es, dreht sich etwas. Deshalb sind viele dieser Formen beinahe kreisrund. Und selbst, wenn wir gerne glauben würden, dies sei Müllers bisher ruhigste Ausstellung, werden wir feststellen müssen, dass das Gegenteil wahr ist. Die Ruhe gerät ins Wanken... sobald wir mit den Bildern mitdrehen, sobald wir nicht bloss drauf, sondern in sie hineinsehen.
Wie so viele Künstler, ist Müller ein Getriebener, getrieben von jener Schaffenskraft, die ihn immer von neuem zwingt, sich auszudrücken. Und wie so viele Künstler erzählt er immer die gleiche Geschichte auf immer neue Art. Wie schon erwähnt: Es dreht ihm im Kopf und was er mit seinen Drucken zeigt, ist immer Teil dieser Drehung: Die Aneinanderreihung der Labormäuse, die Gegenüberstellung von so unterschiedlichen und gleichzeitig ähnlichen Objekten wie der Schreibmaschine und dem elektrischen Stuhl, die Verpackung aller Schönheiten in einen soliden Stahlkoffer, immer schon hat uns Aschi Müller diese eine Geschichte erzählt – erzählen müssen, die Geschichte von einer Welt, die aus den Fugen gerät, nicht weil sie von Gott verlassen wurde, sondern weil jetzt die Menschen selber Gott sein wollen. Und nun sehe ich in dieser neusten Bildfolge genau diese Geschichte wieder.
Für einen Atheisten hat Müller einen bemerkenswert tiefen Glauben. Aber anders als all die Stündeler und Bigotten, tritt er immer wieder aus der vermeintlichen Wärme des Glaubens hinaus in die Kälte des Wissens. Er ist ein Gläubiger, weil er an die Kraft des künstlerischen Ausdrucks glaubt, und er ist ein Wissender, weil er weiss, dass sich die Welt in der Regel nicht vom Himmel her verändert.
Sehen Sie sich Müllers Bilder in Ruhe an und bedenken Sie dabei die Worte, die Müller seinen Schülern jeweils mitgibt:
«Das Licht bestimmt die Farbe.
Die Farbe bestimmt die Stimmung.
Und wenn ihr dieses Gesetz nicht beachtet,
seid ihr auf dem Holzweg.»
Ernst A. Müller befolgt dieses Gesetz. Die Stimmung, die er in diesem Fall damit erzeugt, ist keine Rührseelerei. Müller ist mit seinen «Aufsichten» auf dem rechten Weg, dem linken, auf seinem Weg, auf dem Weg des gläubigen Atheisten, des zweifelnden Zeitgenossen, des offenen Kommunikators. Deswegen sind seine «Aufsichten» vor allem Einsichten.
Pedro Lenz