2003
«Einsichten» heisst die diesjährige Ausstellung von Ernst A. Müller. Und wer Müller kennt, ahnt bereits, dass er mit «Einsichten» nicht genau das meint, was heute in manchen Kreisen derart en vogue ist, also Innenschau, Nabelschau, Sternzeichengeschwätz, Eso-Wischi-Waschi oder sonst eine moderne Form von weltabgewandtem Individualismus.
Nein, der Künstler, der uns heute hier seine neusten Lithographien präsentiert, ist kein Geheimniskrämer seiner seelischen Befindlichkeit, sondern immer und vor allem ein gesellschaftlich denkender Zeitgenosse. Müller betrachtet die Welt, kommuniziert mit der Welt. Er kommuniziert im wörtlichen Sinn durch das für ihn charakteristische, extrovertierte Gesprächsverhalten, im künstlerischen Sinn durch seine Bildersprache und im biblischen Sinn, durch seine Vorliebe für kulinarische Kommunio.
Wenn Müller der aktuellen Ausstellung den Titel «Einsichten» gibt, will er die Sicht in Bereiche, in die wir üblicherweise gar keinen Einblick haben, mit uns teilen. Die Börse etwa, ist ein höchst esoterischer Ort, Börse ist etwas wie Seelenwanderung, ein Begriff, den zwar alle kennen, von dem aber niemand eine besonders konkrete Vorstellung hat. Müller zeigt uns die Börse in ihrer ganzen Banalität, nimmt ihr den Mythos, nimmt ihr alles Geheimnisvolle und bildet sie in ihrer trivialen Banalität wieder ab, als das was sie ist, eine Ansammlung von schwitzenden Jungmännern, die bei der kleinsten Aussicht auf hohe Gewinne wie kleine Kinder im Kreis tanzen, als wären sie das auserwählte Volk, das seinerzeit in Abwesenheit von Moses um ein goldenes Kalb zu tanzen anfing. Zuweilen brauche es so eine physische Einsicht in Bereiche, in die wir sonst nicht eindringen können, um zu geistigen Einsichten zu gelangen, erklärt Müller dazu.
Bevor ich mit den Bildern weiterfahre, gestatten Sie mir bitte, an dieser Stelle eine kleine Geschichte über einen Börsenexperten einzuführen:
Wilu
Was weiblet dä Wilu wider was?
Wilu weis, was er wott.
Wilu isch Wirtschaftswüsseschafter.
Wilu weis, worum u wie u wäge was.
Wirsch wou wiit, wiitume
weni Wüsseschafter finge,
wo wie Wilu wei Widerstäng überwinde,
wisuflink im Wörld-Waid-Web ume weide,
vo Wynige und Wien bis Washington
die winzigschte wahrschinleche
Wirtschaftswachstumswunder
ghöre wachse und wüsse
wie Wouhschtang wott verwautet sy,
wime Widerstäng überwindet,
wime Wasser i Wy wandlet und bi
Wind u Wätter wiiterwurschtlet,
ou wenn d Wärtpapier weni abwärfe
wöusi ar Wallstreet wider weis i was
verworglet hei wo wäutwiit Uswürkige ufe
wirtschaftlech Wettbewärb wott ha.
Wilu weises, Wilu weis aus,
Wilu vo Wange isch e Winnertyp,
Wilu isch e wandlendie Wunderwaffe
Wirtschaftswüsseschafter
u Wäutwucheläser.
Weisch was Wilu:
Wix die säuber.
Oder betrachten wir ein nächstes Bild gesondert: Das Bild des Verwaltungsrates. Sie erkennen auf diesem Bild unschwer eine Ansammlung von vielbeschäftigten, dauerbesorgten Menschen, die nur unseretwegen leiden, weil es ihnen jedes Mal einen Stich ins Herz gibt, dass wir Lohnempfänger so hohe Kosten verursachen, und dass diese Kosten so viel Dividende wegfressen. Die Verwaltungsräte sind bekümmert, weil wir anderen Menschen ihnen so viel Ärger machen, allein durch den Umstand, dass es uns gibt. Betrachten Sie die Sorgenfalten in ihren Gesichtern, den Druck auf ihren Herzen, den Zeitmangel, der an ihren teuren Armbanduhren abzulesen ist. Das Bild zeigt keinen einzigen Menschen. Aber schon mit ganz wenig Vorstellungsvermögen erhalten wir Einsicht in die Abgründe der Gremien, die sich jeweils an solchen Tischen versammeln, um über unsere Leben zu befinden.
Entschuldigen Sie übrigens an dieser Stelle, wenn ich weniger auf die ästhetische Bildsprache eingehe und mich mehr bei den konkreten Bildsujets aufhalte. Das hat mit meiner defizitären Kunstbildung zu tun. Die Formen, die Proportionen, der Umstand etwa, dass bei manchen Bildern die Grösse der abgebildeten Figuren in einem Zusammenhang mit dem Ort steht, an dem sie abgebildet wurden oder die Formensprache, die Müller in all seinen Ausstellungen nie dem Zufall überlässt, das sind lauter Dinge, die Sie, verehrte Vernissagebesucherinnen und Besucher, anschliessend in aller Ruhe noch einmal für sich entdecken können.
Wechseln wir nun zu den Bildern von Wohnhäusern. Wir ahnen die Menschen, die dort wohnen. Wir ahnen, dass diese Menschen uns sehen. Wir wissen um die Menschen, wir wissen, dass sie uns sehen, aber wir sehen sie nicht. Müller dachte bei der Wahl dieses Sujets unter anderem an den deutschen Soziologen Günther Amendt, der sagt, wenn es zum Beispiel eine halbe Million Menschen mit einem Suchtproblem gäbe, sprächen wir lieber 500 000 Mal von einem bedauerlichen Einzelproblem, als uns einmal zu überlegen, ob wir vielleicht ein gesellschaftliches Problem hätten.
Wir haben eine Aussensicht von Häusern, in einem Fall sogar ein Bild mit den Namen aller Leute, die im betreffenden Haus wohnen, doch daraus ergibt sich nicht zwingend eine Einsicht. Zur Einsicht müssen wir selber gelangen.
Wenden wir uns nun der Nacktheit zu. Nacktheit provoziert, bei den Hippies der frühen Siebzigerjahre provozierte Nacktheit die Sittenvorstellung der bestehenden Gesellschaftsordnung. In den Bildern des Konzeptfotografen Spencer Tunick, eines Amerikaners, der jeweils Hunderte von Freiwilligen nackt posieren lässt, provoziert die Nacktheit möglicherweise ganz andere Empfindungen. Und noch einmal völlig anders verhält es sich beim Wettbewerb um weibliche Schönheit, oder was immer die jeweilige Zeit darunter verstehen mag. «Jetz gsehemer d Annarosa», würde es dazu an der Viehschau in der BEA heissen, «d Annarosa isch i der dritte Laktation. Beachtet die wunderbar usgrichtete Hingerlöif, das sehr schön usgeprägte, schön dürzogen Utter, die einmalig usbüedeti Äckepartie und die tadulosi Fläckig. I gloube dasch eidüttig, das git e Supernote vo üsere Fachjury für d Annarosa. Mir gratulieren em Züchter, em Liniger Anton vo Zoubrügg.»
Bestimmt ist es nicht im Interesse des Künstlers, wenn seine Bilder hier einzeln und umständlich zu Tode geredet werden. Aber vom Tod, vom Elend, von Krieg und Zerstörung einer alten Ordnung in freudiger Erwartung einer neuen Ordnung, die meist doch nicht kommt und falls sie kommt, fast sicher der alten Ordnung gleicht, handelt das Bild aus der Mercerie oder auch jenes vom Krieg in Grosny. Einfache Bilder, Bilder, die im Idealfall zu Einsichten führen, Bilder auch, die oft erst im Zusammenhang, in dem sie Müller zeigt, alle ihre Einsichten vermitteln. Darin liegt unter anderem Ernst A. Müllers künstlerische Einmaligkeit, in dieser Fähigkeit, uns durch seine Auswahl und Zusammensetzung der Bilder neue Einsichten zu vermitteln bei Themen, die wir schon gekannt zu haben glaubten.
Pedro Lenz